Es ist an der Zeit, im Gottesdienst die Fülle der ganzen biblischen Botschaft zu Gehör zu bringen. Es ist an der Zeit, die Schönheit und Tiefe der Weisheit, die Schärfe der Prophetie, die Lebensnähe der Tora in den christlichen Gottesdiensten zu Gehör zu bringen. Es ist an der Zeit, diese Texte neben den Erzählungen und der Lehre, den Hymnen und Reden der Evangelien und Episteln zu lesen, zu hören und zu predigen. Mit dieser Überzeugung hat die KLAK-Arbeitsgruppe sich an die Arbeit für die hier vorgelegte Perikopenordnung gemacht.
Der Evangelist Lukas konnte den Herrenbruder Jakobus in der Apostelgeschichte noch sagen lassen: »Mose hat von alten Zeiten her in allen Städten solche, die ihn predigen, und wird alle Sabattage in den Synagogen gelesen« (Apg 15,21). Das ist längst nicht mehr so. Zu Beginn freilich war für die sich entwickelnden christlichen Gemeinden klar, dass ihre Schrift keine andere ist als die sich zu dieser Zeit ebenfalls konsolidierende Bibel Israels: »Mose und die Propheten« (Lk 16,29 u.ö.) oder »Mose, die Propheten und die Psalmen« (Lk 24,44). Dann wurde neben der mit dem Judentum gemeinsamen Bibel auch aus den Evangelienschriften und apostolischen Sendschreiben gelesen – und irgendwann fast ausschließlich aus diesen Schriften des Neuen Testamentes.
Luthers Reformation war auch der Versuch, Mose, die Propheten und die Schriften wiederzugewinnen. Allerdings hatte das »Alte Testament« auch bei Luther seinen liturgischen Ort im Gottesdienst in der Vesper am Sonntagnachmittag, keineswegs in einem der beiden in seiner »Deutschen Messe« konzipierten Vormittagsgottesdienste (WA 19,79).
Mit der Aufklärung schwand die Popularität der Bibel Israels weiter. Schleiermacher konnte zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Jüdische mit dem Heidnischen gleichsetzen und für den Gottesdienst folgern: »In dem Maaß als im A.T. das eigenthümlich jüdische hervortritt, ist es nicht geeignet, im Umfange der christlichen Darstellung auch nur für die all-gemein menschlich religiöse Darstellung zu dienen« (Die praktische Theologie, S. 100 f). Konsequent wurde bei der Wiederentdeckung der alten Leseordnungen im 19. Jahrhundert das Erste Testament weitgehend ignoriert.
Der nationalsozialistische Antisemitismus brachte auch weite Kreise in der Kirche dazu, sich von einem »jüdischen alten Testament« abzuwenden. Bei der »Entjudung« der christlichen Botschaft durfte dies keine Rolle mehr spielen. Umso deutlicher formierten sich Gegenstimmen, etwa die von Wilhelm Vischer und Karl Barth.
Es war ein Meilenstein, dass die Perikopenordnung von 1958 in der Einsicht, dass die »Hilflosigkeit unserer Gemeinden gegenüber dem Alten Testament [...] nur durch eine intensive Predigtarbeit beseitigt oder wenigstens gemildert werden« kann, in vier von ihren sechs Reihen »im Durchschnitt jede[n] vierte[n] Text dem Alten Testament« entnahm. So wurde immerhin in jeder sechsten Predigt ein Stück aus dem dreimal umfangreicheren Teil unserer christlichen Bibel bedacht. So ist es auch bei der Revision 1978 geblieben.
Ein neues Perikopenmodell
Das hier vorgelegte weiterführende Modell wird der Perikopenordnung von 1978 an die Seite gestellt:
– Die mittlere Spalte zeigt die fünf Bereiche, in denen die Perikopenvorschläge angeordnet sind: Tora – Propheten – Schriften – Epistel – Evangelium. Die Arbeitsgruppe hat das Modell so weit abgerundet, dass auch die Tages- oder Wochen- bzw. Eingangspsalmen und Tages- oder Wochensprüche bedacht sind. Ein Vorschlag für das Tages- bzw. Wochenlied steht am Ende eines kurzen Kommentars.
– Die linke Spalte führt auf der Höhe des jeweils zutreffenden Bereiches die sechs bisherigen Perikopen mit den römischen Ziffern I bis VI für ihre jeweilige Reihe auf.
– Die rechte Spalte enthält die vorgeschlagene neue Textauswahl. Abweichungen von der bisher gültigen Ordnung sind durch Fettdruck hervorgehoben. Viele Texte der bisherigen Perikopenordnung wurden beibehalten. Neue Vorschläge entstehen oft dort, wo schon vorangegangene Revisionen die alten Texte nicht beibehielten. Für die Sonntage Okuli und Judika hatte z. B. bereits das Lektionar von 1978 die alte Epistel und das alte Evangelium durch neue ersetzt.
In dieser Gegenüberstellung wird auf den ersten Blick deutlich, um wie viel intensiver und vielfältiger Texte aus dem größeren Teil der Bibel in die neue Perikopenordnung einbezogen wurden. Die Reformation hat den Umfang des ersten Teils der Bibel erneut mit dem jüdischen Gebrauch in Übereinstimmung gebracht. Eine für die Perikopenauswahl geeignete Einteilung bildet die auch in den Evangelien genannte und in der jüdischen Bibel heute gebräuchliche Aufteilung in Tora, Propheten und Schriften.
Die Gesamtbezeichnung des umfangreicheren ersten Teils der Bibel birgt eigene Schwierigkeiten. Traditionelle Drucke der Lutherübersetzung sprechen von den »Schriften des Alten Testamentes«. Der daraus ungenau verkürzende Ausdruck »Altes Testament« wird nur in Zitaten verwendet. Der alternative Begriff »Erstes Testament« behebt das Missverständnis kaum. Der Ausdruck »Hebräische Bibel« bezieht sich vor allem auf die Sprache. Im christlichen Zusammenhang würde die Bezeichnung als »Bibel Israels« – weniger genau als »Jüdische Bibel« – Herkunft und gemeinsamen Bezug auf den Textkorpus wiedergeben. Inzwischen ist auch die hebräische Kurzbezeichnung für den dreigeteilten Korpus in den Umschriften als »Tanach« oder »Tenach« schon im Umlauf. Die Arbeitsgruppe geht mit einer Gesamtbezeichnung zurückhaltend um und verwendet vorzugsweise die Bezeichnung der Hauptteile, wie man sie bei Jesus und den Aposteln findet.
Aus den drei Bereichen Tora, Propheten und Schriften und den beiden altkirchlichen Reihen Evangelium und Epistel entsteht so das fünfgliedrige Perikopenmodell.
Möglichkeiten einer Lese- und Predigtordnung nach dem neuen Modell
Bei der Fassung der Perikopen zu einem Lektionar ist dreierlei zu berücksichtigen:
– Bei der Übersetzung wird grundsätzlich auf die Lutherübersetzung zurückgegriffen. Nur an wenigen Stellen wird auf andere Übersetzungen hingewiesen.
– Bei der Übertragung des Tetragramms folgt die Arbeitsgruppe als Mindeststandard der Tradition, die Übersetzung des Tetragramms durch Kapitäl-chen bzw. Großbuchstaben hervorzuheben. So kann auch das nur teilweise genügende Ersatzwort HERR nicht mit der bürgerlichen Anrede verwechselt werden.
– Der Umfang der Perikopen wird oft möglichst weit gefasst. Im Einzelfall können Abgrenzungen etwa für einen Predigtschwerpunkt vorgenommen werden. Ein Anliegen ist es aber, den größeren Zusammenhang im Blick zu haben.
Der hier vorliegende Entwurf füllt die fünf Perikopenbereiche für alle Sonntage und die Feiertage des Kirchenjahres beispielhaft aus. Die Ausarbeitung der Proprien für zusätzliche Gedenktage und Anliegen in Sonderproprien bleibt der zukünftigen Arbeit vorbehalten. Die Weiterarbeit gibt auch Gelegenheit, bisher unberücksichtigte Texte aufzunehmen, denn der Arbeitsgruppe ist bei ihrer Arbeit stets bewusst gewesen, dass die für eine überschaubare Ordnung notwendige Auswahl immer auch einen Verzicht von Texten bedeutet.
Natürlich lässt diese traditionelle Form der überschaubaren Perikopenordnung die Möglichkeit offen, sich für eine Predigtreihe außerhalb dieser Ordnung, vielleicht eine Bahnlesung, zu entscheiden.
Das Modell ist also noch offen für die Gestaltung einer Predigt- und Leseordnung. Folgende Regeln sollten dabei beachtet werden:
Liturgie und Predigt verlangen Regeln für die Auswahl aus den fünf Bereichen für die entsprechenden Lesungen. Aus den fünf Lesevorschlägen werden bei einer Liturgiefeier in der Regel drei, bei manchen Gelegenheiten und in manchen Gemeinden vielleicht auch nur zwei gelesen. Die Lesung für die Predigt sei dabei immer mitgerechnet. Die Auswahl dieser drei und manchmal nur zwei Lesungen aus den fünf Teilen erfolgt von der Predigtlesung her. Natürlich sollte auch die Möglichkeit Beachtung finden, in der Predigt den gesamten Textraum der erklungenen Lesungen abzuschreiten. Welche Lesungen einen bestimmten Predigtabschnitt begleiten, kann die Predigerin /der Prediger entscheiden. Als Richtlinie soll gelten, auch hier die ersten drei Bereiche gebührend – also in der Regel in zwei von drei Lesungen – zu berücksichtigen.
Für die Gestaltung einer Predigtordnung seien zunächst zwei extreme Varianten genannt und dann ein Mittelweg vorgestellt:
1. Entsprechend der bisherigen Regel, ein Jahr in der Predigtreihe I nur Evangelientexte zu predigen und entsprechend in der Predigtreihe II ausschließlich Episteltexte, sollte dies bei den drei neuen Reihen auch möglich sein. Diese extreme Variante würde jeden der fünf Textbereiche zu je einer Predigtreihe erklären.
2. Ein Maximum an Abwechslung wäre – auf ganz formalem Wege – erreicht, wenn man an jedem der überall berücksichtigten Sonn- und Feiertage von einem Bereich in den nächsten rücken würde und dabei die Bereiche in der Reihenfolge Tora – Evangelium – Propheten – Epistel – Schriften berücksichtigte:
Für einen von Jahr zu Jahr gleichbleibenden Brauch wäre die Liste natürlich unabhängig von den im konkreten Jahr vorkommenden oder wegfallenden Sonntagen.
3. Ein Mittelweg wäre, den oben angezeigten Wechsel zum nächsten Bereich ungefähr aller vier Predigtgelegenheiten, also fünfzehnmal im Predigtjahr, zu vollziehen. Die Abfolge könnte dann so aussehen:
Im Rahmen dieser Möglichkeiten sind weitere Varianten vorstellbar. |